Der Wundertopf

Ein Kreuzberger Sommermärchen

Grausen

Das kalte Grausen

Als der Bürgermeister vorsichtig den Deckel anhob, um nur einen ganz kurzen verstohlenen Blick in die Kasse zu werfen, nur einen Augenaufschlag − da packten ihn wie so oft das GRAUSEN und die ANGST. Das war er zwar gewöhnt, wie alle Bürgermeister. Schließlich war er ja Bürgermeister geworden, weil er genau zu diesem Zweck etwas Entscheidendes mitbrachte: Er hatte eine Maske, die ihn über alle Widrigkeiten, die solch ein Bürgermeisterleben nun mal ausmachen, erhaben erscheinen ließ. So, als könnte ihn nichts auf der Welt aus der Fassung bringen. Die meisten Bürgermeister und auch die meisten anderen politischen Funktionsträger hatten so eine Maske. So sehr GRAUSEN und ANGST auch an ihm zerrten, nach außen hin war ihm nichts anzusehen. Aber diesmal wollten sie ihn nicht mehr loslassen. Das war neu. Und nun gesellte sich auch noch ein drittes dazu: die BEKLEMMUNG.

Angst

Ein Bürgermeister in Angst

Die kleine Prinzessin lief durch die kleine Gemeinde des Bürgermeisters. Und wie sie nun den Bürgermeister sah, von ANGST und GRAUSEN gepackt und die BEKLEMMUNG im Nacken, ja, da kullerte ihr eine Träne über die linke Wange, so gotterbärmlich war das. Denn der kleinen Prinzessin konnte man nichts vormachen, sie konnte durch alle Masken das wahre Gesicht erkennen.

„Was hast du denn für ein Problem?“ fragte die kleine Prinzessin.

„Ach“, erwiderte der Bürgermeister, „den Finanzen geht es sehr sehr schlecht. Und ich würde doch so gerne den armen Menschen in meinem Bezirk was richtig Gutes tun. Damit die sich auch mal so richtig freuen können.“ Die kleine Prinzessin konnte deutlich die nur mühsam unterdrückten Schluchzer hören.

„Wenn es den Finanzen schlecht geht, musst du doch nur die Steuern erhöhen“, riet ihm die kleine Prinzessin.

„Das geht leider nicht“, sagte der Bürgermeister. „Ich bin ja nur ein kleiner Bezirksbürgermeister.“

„Hm…“, machte die kleine Prinzessin. „Wenn du nur ein kleiner Bezirksbürgermeister bist, warum fragst du dann nicht den Bürgermeister?“ Kaum hatte die kleine Prinzessin ihm die Frage gestellt, umklammerten ANGST und GRAUSEN den Bezirksbürgermeister noch fester, und die BEKLEMMUNG griff nach seinem Bauch.

„Der Bürgermeister rennt doch nur von einer Party zur nächsten und findet das auch noch sexy“, brachte der Bezirksbürgermeister niedergeschlagen und unter Qualen hervor.

Kleine Prinzessin

Die kleine Prinzessin

„Hm…“, machte die kleine Prinzessin erneut. Der Bezirksbürgermeister tat ihr schrecklich leid. So gerne wollte sie ihm helfen. Sie überlegte. Da kam ihr der Gedanke mit dem Wundertopf. Das hatte sie schon einige Male ausprobiert, allerdings nicht immer erfolgreich. Es war schon vorgekommen, dass im Wundertopf statt einer Lösung ein Fluch ausgebrütet worden war, und nicht immer hatte sie es zu verhindern vermocht, dass die Menschen den Fluch für die Lösung hielten. Die kleine Prinzessin dachte sehr tief nach, ob sie den Einsatz des Wundertopfes in dieser Situation würde verantworten können. Dabei wiegte sie ihren Kopf leicht hin und her, und es schien, als wogten ANGST und GRAUSEN in gleicher Weise. Von der BEKLEMMUNG war nichts mehr zu sehen, seit sie es sich im Bauch des Bezirksbürgermeisters gemütlich gemacht hatte.

Einmal, es war erst einige Jahre her, da präsentierte der Wundertopf die Berliner Bankgesellschaft als Lösung. Auch damals ging es um Finanzen, denen es sehr sehr schlecht ging, und es waren wie immer die politischen Funktionsträger, die darunter am meisten zu leiden hatten. Sie wollten ihrer Stadt etwas Gutes tun, etwas richtig, ehrlich Gutes, etwas, was alle voran bringt − aber sie hatten viel zu wenig Geld dafür. Umso größer war ihre Freude, als die kleine Prinzessin den Wundertopf auspackte, und dieser die Berliner Bankgesellschaft ausbrütete. Die kleine Prinzessin wollte noch „Moment mal!“ rufen, denn sie kannte ja das Restrisiko, das der Wundertopf barg. Aber da hatten die politischen Funktionsträger die Bankgesellschaft schon unter sich aufgeteilt, und das Schicksal nahm seinen Lauf.

„Ach“, dachte die kleine Prinzessin, „die Menschen sind so. Wenn die Geld wittern, setzt bei denen das Hirn aus. Dann gibt es kein Halten mehr…“ Sie seufzte. Schließlich gab sie sich einen Ruck, denn der Wundertopf hatte ja auch seine guten Seiten. Es waren diese Menschen, die völlig die Kontrolle über sich verloren, sobald sie eine vermeintliche Lösung angeboten bekamen, die ihnen womöglich auch noch persönliche Vorteile verschaffte. Genau genommen war es ja auch gar kein Problem des Wundertopfes, sondern ein menschliches Problem. Deswegen, so schloss die kleine Prinzessin ihre Überlegungen, musste sie sich vorher genau vom Charakter der jeweiligen Menschen ein Bild machen. Und dieses jämmerliche Häuflein von einem Bezirksbürgermeister, dessen Finanzen es sehr sehr schlecht geht, war ihr, trotz seiner derzeitigen Situation, durchaus sympathisch. „Doch“, war sie überzeugt, „das ist ein guter Mensch mit einem guten Herzen. Er will viel Gutes tun, aber ihm fehlen die Mittel. Ich habe den Wundertopf, und der KÖNNTE die Lösung ausbrüten. Dieser Bezirksbürgermeister ist ein besonnener und vernunftbegabter Mensch, der sich nicht auf die erstbeste Lösung stürzen wird. Er wird das, was der Wundertopf ausbrütet, genau untersuchen, bevor er es verwendet. Ich muss darauf vertrauen…“

Die kleine Prinzessin sah dem Bezirksbürgermeister jetzt direkt in die Augen und sagte: „Ich habe einen Wundertopf. Wenn du willst, können wir ihn eine Lösung ausbrüten lassen.“ Sie hatte sich überlegt, dem Bezirksbürgermeister nichts über das Restrisiko zu erzählen. Denn sonst hätte er womöglich von vornherein abgelehnt. Aber sie mochte den Wundertopf und schleppte ihn die ganze Zeit mit sich herum. Und sollte diese Plackerei nicht vergebens sein, musste er auch auf der ERDE und auch bei den Menschen, die diesen Planeten ja so zahlreich bevölkern, Anwendung finden.

Der Bezirksbürgermeister zögerte einen kleinen Moment lang, doch angesichts seiner misslichen Lage war er bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. Vielleicht würde er sich wenigstens der BEKLEMMUNG entledigen können. Von Wundertöpfen an sich hatte er keine Ahnung, dennoch sagte er: „Ich will alles versuchen, damit es den Finanzen wieder besser geht.“

Wenn er das Wort „Finanzen“ aussprach, dann klang das ein bisschen so, als würde er von Haustieren reden, von Katzen oder Meerschweinchen. Aber das störte die kleine Prinzessin nicht sonderlich, denn Finanzen hatten für sie eigentlich  wenig Bedeutung. Sie war eher belustigt über das enge Verhältnis zwischen dem Bezirksbürgermeister und den Finanzen, das er auf diese Weise, wenn auch nicht bewusst, zum Ausdruck brachte.

Wundertopf

...und ihr Wundertopf

Gespannt beobachtete der Bezirksbürgermeister, wie die kleine Prinzessin den Wundertopf aus einem Tuch auswickelte. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Kochtopf. Nur dass außen an den Wänden grobe mystische Zeichen eingeschlagen waren. Die kleine Prinzessin öffnete ein kleines Tütchen und riet dem Bezirksbürgermeister, sich jetzt die Nase zuzuhalten. Dann schüttete sie den Inhalt in den Topf und deckte ihn mit dem Tuch ab.

„Jetzt musst du 3 mal da auf das Tuch spucken“, sagte die kleine Prinzessin zum Bezirksbürgermeister, der schon nach Luft rang, weil er sich immer noch die Nase zuhielt.

„Gut“, sagte er und tat wie ihm geheißen. Daraufhin summte die kleine Prinzessin eine sich wiederholende Melodie und sagte schließlich: „Nun müsste es fertig sein.“ Vorsichtig rollte sie das Tuch von der Öffnung weg. Qualm entwich, und der Bezirksbürgermeister fing schrecklich an zu husten.

„Du solltest diesen Rauch nicht einatmen“, sagte die kleine Prinzessin. Auch die Augen tränten ihm jetzt, so dass er zunächst nichts sehen konnte.

„Guck!“ sagte die kleine Prinzessin überflüssigerweise und gab ihm dann ein Tuch, damit er sich die Augen trocknen konnte. Der Bezirksbürgermeister erkannte dann auch auf dem Grund des Topfes ein langgestrecktes geometrisches Gebilde, das er sofort lieb gewann. Ohne auch nur im geringsten auf ein Zeichen der kleinen Prinzessin zu warten, ergriff er das Ding und − ließ es im selben Moment wieder fallen.

„Da hast du dir aber ganz schön die Hände verbrannt“, sagte die kleine Prinzessin. Sie hatte keine Ahnung, was das Gebilde darstellte, das durch die Ungeschicklichkeit des Bezirksbürgermeisters in 6 Teile zerbrochen war: zwei große, rundliche, ein großes langgestrecktes und 3 kleinere, längliche. Allein der Bezirksbürgermeister, der nun hektisch auf seine verbrannten Hände einpustete, schien zu wissen, worum es sich handelte. Das jedenfalls meinte die kleine Prinzessin durch die Maske zu erkennen. Sie wusste aber auch nicht, ob der Wundertopf nun die Lösung oder einen Fluch ausgebrütet hatte.

„Weißt du, was das ist?“ fragte die kleine Prinzessin.

„Klar!“ antworteten unisono der Bezirksbürgermeister, ANGST und GRAUSEN sowie aus dem Bauch die BEKLEMMUNG.

„Das ist der ehemalige Luisenstädtische Kanal in seiner Gestaltung aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Wenn ich den wieder so gestalte, dann haben die armen Menschen endlich etwas, worüber sie sich wirklich freuen können. Danke, kleine Prinzessin, du hast mich von meiner größten Sorge befreit.“ Tatsächlich lockerten ANGST und GRAUSEN ihren Griff und die BEKLEMMUNG kam wieder aus dem Bauch hervor. Alle drei trugen jedoch ein breites zufriedenes Grinsen zur Schau.

Das Gebilde

Das längliche Gebilde auf seinem Grund

„Du weißt, dass wir wiederkommen werden“, raunten sie der kleinen Prinzessin noch zu, bevor sie entschwanden. Da war sich die kleine Prinzessin sicher, dass der Wundertopf einen Fluch ausgebrütet hatte.

aufgeschrieben von Benno
im Sommer 2008

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